Zwischenkopie 2

 

07.05.2021

Liebe Teilnehmer*innen,

zur heutigen Sitzung haben Sie sich mit einigen theoretischen Zugängen zur Fotografie der Moderne bzw. zur Modernen Fotografie auseinandergesetzt. Von eigentlicher ‚Theorie‘ kann man dabei sicher nur im Zusammenhang mit Benjamins und Barthes für die Rezeption des Mediums zentralen Essays sprechen, während die kleine Textsammlung aus der Anthologie Theorie der Fotografie von Wolfgang Kemp eher kurze Meinungsäußerungen, Schlaglichter auf verschiedene Aspekte der Fotografie aus Fotografensicht boten, die sich als Ausblicke auf das Spektrum des fotografischen Diskurses verstehen. Die in der PPP gezeigten Bilder dieser Fotografen sollten ihnen die unterschiedlichen Zugänge anschaulicher machen.

Trotz aller Unterschiede scheint mir ein grundsätzliches ‚Wahrheitsparadigma‘ für die Fotografie der Moderne zentral zu sein. Auch dann, wenn Autor*innen sich gegen das Primat der ‚Wirklichkeitsabbildung‘ in der Wahrnehmung der Fotografie aussprechen, wie etwa Otto Steinert, der für eine subjektive und damit dezidiert künstlerische Fotografie plädiert, fungiert es als Negativfolie, von der sich abzugrenzen man bemüht ist. Im Ringen um die Anerkennung der Fotografie als einer Kunstform, stellt sich die Frage nach eben der subjektiven Zutat durch Fotograf*in gegenüber der technischen Reproduktion eines ‚So ist es gewesen‘. Auch Roland Barthes bezieht sich noch auf die Referentailität des fotografischen Bildes, wenn er sagt, dass die Fotografie „ihren Referenten stets im Gefolge“ habe, dass also im Fall der Fotografie Magrittes berühmtes Zitat „Ceci n’est pas une pipe“ unter dem Abbild einer Pfeife nicht zutreffend sei, da es sich hier um ebendiese Pfeife handele.

Einen semiotisch interessanten Zugang vertritt dem gegenüber Aaron Siskind, wenn er sagt, dass die fertige Fotografie „ein völlig neuer Gegenstand“ sei, „vollkommen und autonom, ein Gegenstand, dessen Grundbedingung Ordnung ist, wodurch sie sich von der Welt der Ereignisse und Handlungen unterscheidet“ (Reader, S. 71). Hinter dem Foto als etwas ‚Gemachtem‘ steht also immer ein ’schöpferischer Wille‘, der die abgebildeten Objekte – sei ihre gleichzeitige Präsenz an einem Ort noch so zufällig – in eine Ordnung, in semiotische Beziehung stellt. Henri Cartier Bresson, seinerzeit einer berühmtesten Fotografen, findet dazu einen anderen Zugang, nicht den räumlichen, sondern den temporalen, wenn er über den „entscheidenden Augenblick“ reflektiert. Was dieser entscheidende Augenblick ist, ist aber nicht (immer) nur der subjektiven Sicht des Fotografen geschuldet, sondern auch einer narrativen Ordnung abgebildeter, präsupponierter temporaler Prozesse: Entscheident ist ein Augenblick etwa dann, wenn sich ein Ereignis vollzieht, eine Transformation von einem Vorher zu einem Nachher (dazu folgt in der Sitzung am 28.05. ein Beitrag, der dies ausführlicher erläutert).

Mit seinem Aufsatz über die Rhetorik des Bildes legt Roland Barthes, dann den eigentlich ersten semiotisch-methodologischen Ansatz zur Analyse fotografischer Bilder vor. Zu bedenken ist hier allerdings, dass die Auswahl des Beispiels aus dem Bereich der Werbung umsichtig getroffen ist, denn die Frage, ob die analysierte Bildaussage tatsächlich eine ‚intendierte‘ sei, ist hier ohne Weiteres mit ‚ja‘ zu beantworten, da es sich um ein inszeniertes Bild handelt, während das im Bereich der ‚Bedeutung‘ dokumentarischer Fotogarfie wesentlich schwieriger zu behaupten ist.

Mit der postmoderen Fotografie, die unser heutiges Thema sein soll, vollzieht sich ein in der Philosophie grundlegender Diskurswandel auch am fotografischen Bild. Mit der zeichenkritischen Auffassung nach Jacques Derrida, dass Zeichen stets auf andere Zeichen verweisen (und nicht auf Realität) ist das Wahrheitsparadigma künstlerisch und diskursiv obsolet geworden. Wohlgemerkt, es geht hier nicht um das Genre ‚dokumentarischer Fotografie‘ oder die ‚Gebrauchsfotografie‘, die ihre existenzielle Berechtigung aus ihrer vermeintlichen Realitätsreferenz argumentiert, sondern um ‚künstlerische Fotografie‘, die ihre ‚mediale Gemachtheit‘ stets mitreflektiert und sich der Dekonstruktion der Beziehung von Bild und fotografischem Referenten verschrieben hat. Diesen Wandel vollzieht Barthes in dem heutigen Lektüretext, einem Auszug aus seinem Buch Die helle Kammer nach. Eine Grafik am Ende der PPP Theorie der Postmoderne (unter DOWNLOADS) soll die zentralen Unterschiede zwischen Rhetorik des Bildes und Helle Kammer systematisieren. In dieser PPP finden Sie reichlich Anschauungsmaterial für Postmoderne Fotografie, das- so meine ich – den Bruch mit dem ‚Wahrheitsparadigma‘ sehr deutlich werden lässt. Außerdem finden Sie unter DOWNLOADS eine zusätzliche kleine PPP mit nur zwei Folien, die noch einmal wesentliche Aspekte zur postmodernen Ästhetik zusammenfassen.

Die Beispiele in der PPP beziehen sich nicht nur auf Fotografie, sondern auch auf andere Künste, wie Architektur und Malerei. In all diesen Bereichen lässt sich der Bruch mit ästhetischen Paradigmen der Moderne in einem ‚Spiel der Zeichen‘ nachvollziehen, der Ansatz der Dekonstruktion zeigt sich auch dann, wenn etwa in der Porträtmalerei der zentrale Gegenstand (das Gesicht der individuellen Person) sich der Ansicht verweigert (Gerhard Richter) oder die Architektur sich vom Diktum der Moderne „Form follows function“ zu vollkommen dysfunktionalen scheinbar ungeordneten Formen wendet oder Zeichen vergangener Architekturepochen spielerisch zitiert und kompiliert oder eben ein Supermarkt-Neubau sich als Bauruine inszeniert und den ‚Bruch‘ zu seinem signifikantesten Merkmal erhebt.

Auch auf die technische Entwicklung der Fotografie nimmt die PPP Bezug. Denn mit der Entwicklung ultrascharfer Autofokus-Boliden in den 1980er Jahren und der digitalen Fotografie in den 1990er Jahren, die auf eine technisch immer vollkommenere Abbildungsleistung zielen (Megapixelwettrennen!), etabliert sich die Unschärferelation als neues (postmodernes) Paradigma in der künstlerischen Fotografie. Lomographie und später die Hipstamatic-App punkten ästhetisch mit Unschärfe, unechter Farb- und Kontrastwiedergabe und statt des entscheidenden Augenblicks wird der zufällige Auslösemoment, der beiläufige ‚Schuss‘ aus der Hüfte ohne jede Bildkontrolle Mode. Bildgegenstand ist Zufälliges, Alltägliches oder Verfremdetes, das mit der Fotografie als einer durch die Fotograf*innen kontrollierten Kunstform bricht: Zufall versus Zeichenwollen, der Apparat macht die Kunst, „The Medium is the Message (Marshall McLuhan) … Das Stichwort lautet „Entreferentialisierung“. Heute koexistieren verschiedene Bildauffassungen. Neben dem Fortbestand postmoderner Ästhetik finden wir einen deutlichen Gegentrend zur ‚Rereferentialisierung der Zeichen‘ in den Künsten. Aber Bilder haben spätestens mit der Postmoderne ihre ‚Unschuld‘ verloren. Ein künstlerisches oder auch dokumentarisches Foto, das sich nicht zugleich seines medialen Konstruktcharakters bewusst ist, ist heute kaum denkbar. Auch wenn eines scheinbar naiv ‚Authentizität‘ suggeriert, ist dies nur als bewusster Gegenentwurf zur medialen Tendenz zur Selbstreflexion bzw. -referenz zu begreifen.

Die Bilder von Taryn Simon, bzw. deren Korrelationen mit Texten, Ausstellungskontexten (also auch performativen Aspekten), zeigen, wie metareflexiv auch scheinbar technisch einfachste dokumentarische Projekte (immer gleiche Kamerabedingungen bei der Ablichtung von Personen im Studio) sind. Bilder mit Rahmen, Rahmen ohne Bilder, daneben Rahmen mit erläuternden Kotexten, die der gezeigten Person erst ihre ‚Bedeutung‘ durch sprachliche Texte verleihen, wobei die Rahmen Abgeschlossenheit semiotisieren, dabei aber zugleich rahmenüberschreitend aufeinander verweisen (Zeichen verweisen auf Zeichen) … spannend, oder?